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Philip Julius

Anders und doch normal: Stuhlkreis

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von Marcella Becker

Liebe Philip Julius Leser,
Manchmal bleiben Sitzplätze in unserem Leben leer. Egal wie gern wir sie besetzen möchten. Vielleicht aus einem guten Grund, vielleicht aber auch einfach nur so. Diese Sitzplätze sind oft Stellvertreter in unserem Leben, zumindest in meinem Leben. In meinem Fall sind es die Erwartungen. Überall lauern sie. Mal ganz offensichtlich, mal versteckt. Gerade zu der Weihnachtszeit kann ich diese gut spüren. Ehrlich gesagt springen sie mich regelrecht an und kleben an mir. Egal wie sehr ich mich schüttel, sie kleben und kleben. So marschiere ich dann in die Weihnachtszeit – voll mit Erwartungen. Das kann ja nur schiefgehen. Und was soll ich sagen? So ist es auch. Ich habe so viele Erwartungen an mich und an das Fest, dass ich im Vorfeld schon sicher bin, dass diese nicht im Geringsten erfüllt werden können. In die Kirche gehen (das mache ich nicht nur an Weihnachten gerne), in Ruhe und mit einer Gelassenheit das Fest genießen, Freunde und Familien besuchen. All das sind Dinge, die ich nicht nur an Weihnachten aber ganz besonders am 24., 25, und 26. Dezember machen würde. Viele dieser Erwartungen gehen nicht in Erfüllung – das liegt zum einen an Evans Besonderheiten und zum anderen an der Tatsache, dass das Leben nicht immer so mitspielt, wie ich es gerne hätte.
Ich merke immer mehr, dass ich mich in vielen verschiedenen Bereichen extrem unter Druck setze. Ich möchte allen und jedem gerecht werden. Während der Weihnachtszeit schiele ich in fremde Häuser und male mir aus, wie perfekt deren Weihnachtsfest wohl sein mag. Wie idyllisch es wohl bei ihnen an Heiligabend zugeht.

Die Kinder sind bestimmt gerade dabei Ihr Weihnachtskonzert vor dem perfekten Weihnachtsbaum, mit echten Kerzen versteht sich, zu halten. Gekleidet wie der kleine Lord und das doppelte Lottchen. Gefeiert von der Familie, die sich lachend mit Champagner zuprostet. Das Essen steht schon auf dem Tisch und die perfekt verpackten Geschenke stapeln sich vor dem wunderschönen Weihnachtsbaum. Alle Familienmitglieder sind tiefenentspannt und strahlen um die Wette.

Ich bin so sehr geblendet von dieser Liebe, dass ich aus meinem Tagtraum aufwache und beinahe über meine eigenen Füße stolpere. Der kleine Bruder schreit mittlerweile wie am Spieß und der große Bruder? Ja, wo ist der überhaupt?
In dem Moment sichte ich Evan, den kleinen Blondschopf, wie er gerade hinter dem Gartenzaun der Nachbarn verschwindet. Schreiend läuft er den Schafen hinterher. Die Schuhe und die Jacke hat er sich natürlich vorher ausgezogen – die stören bei der Verfolgungsjagd ja auch nur. Während ich versuche den kleinen Bruder zu beruhigen und Evan wieder einzufangen, schweifen meine Gedanken wieder ab und ich denke an die anderen Familien. Ich bin mir sicher, genauso oder so ähnlich wie in meinen Vorstellungen wird es in den Stuben der anderen Häuser in unserem Dorf zugehen.
Bei uns? Geht es leider nicht ganz so idyllisch zu. Natürlich weiß ich, dass sich der Weihnachtsabend nicht überall so friedsam gestaltet. Aber was ist falsch daran, sich einmal im Jahr ein wenig Bilderbuchidylle zu wünschen? Ich finde gar nichts. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, sich immer wieder darauf zu besinnen, wie reich man beschenkt ist. Den Blick von dem abzuwenden, was fehlt und darauf zu schauen, was man hat. Nicht immer dem hinterher trauern was nicht da ist, sondern das, was man hat, mit offenen Armen zu empfangen. Nicht zu vergleichen, was die anderen vielleicht haben mögen, vielmehr das zu feiern, was man wirklich in den Händen hält oder im Herzen trägt.
Als ich vor ein paar Tagen ins Wohnzimmer gekommen bin, habe ich Evan dabei beobachtet, wie er sich einen Stuhlkreis aufgebaut hat. Ganz selbstverständlich hat er die Plätze mit seiner geliebten Leihhündin, seinem (nicht immer so geliebten) kleinen Bruder und einigen Gegenständen besetzt, die ihm wichtig sind. Evan überlegt nicht lange, sondern bedient sich der Personen und Gegenstände, die für ihn zugänglich sind. Er trauert nicht darüber, wer oder was nicht in seinem Stuhlkreis Platz findet. Nein, ganz im Gegenteil. Er freut sich über die Personen und Gegenstände, die dabei sind. Bedingungslos. Ohne traurig oder enttäuscht zu sein. Er nimmt die Dinge, wie sie kommen. Er akzeptiert die Gegebenheiten wie sie sind. Er hat keine großen Erwartungen, sondern freut sich immer über das was er gerade hat und für ihn erreichbar ist.
Mal wieder hat mir Evan die Augen geöffnet. Mal wieder hat er mir gezeigt, worauf es wirklich im Leben ankommt. Natürlich darf man sich wünschen, dass es manchmal anders läuft oder traurig sein, wenn etwas nicht so ist, wie man es gerne hätte. Aber ich glaube, es ist genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, sich über das zu freuen, was man besitzt. Ich fange an zu lernen, dass es okay ist, wenn nicht alle Stühle in meinem Leben besetzt sind. Denn es kommt nicht darauf an wie viele Stühle besetzt sind, sondern wer darauf Platz nimmt. Egal wie chaotisch unser Leben oder Weihnachtsfest auch ist. Es sind unsere Traditionen. Es ist unser Leben – und das ist nicht weniger wert, nur weil es anders ist.
Die Kolumne „Anders und doch normal“ von Marcella Becker beschäftigt sich mit Themen, die die meisten wenn nicht gar alle Eltern behinderter Kinder kennen.
Marcella wohnt mit ihrem Sohn Evan (6) in der Nähe von Bremen. Evan hat das hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) und lebt in seiner eigenen, besonderen Welt, denn Evan ist Autist.

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