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Philip Julius

Anders und doch normal (6)

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Liebe Philip-Julius Leser,
in diesem Monat möchte ich mich einem Thema widmen, welches oftmals zu wenig Aufmerksamkeit erhält und häufig ohne viele Worte unter den Tisch gekehrt wird: Die Partnerschaft mit einem behinderten Kind.
Ein behindertes Kind ist für eine Familie eine besondere Herausforderung. Paare mit einem behindertem Kind sind besonderem Stress ausgesetzt. Oftmals wird dieser zu einer Zerreißprobe für die Ehe und Partnerschaft. Gesunde Kinder bedeuten schon eine große Umstellung für eine Beziehung und verändern eine Partnerschaft grundlegend. Ein behindertes Kind mit besonderen Bedürfnissen stellt in den meisten Fällen die komplette Partnerschaft auf den Kopf und führt in einigen Fällen sogar zur Trennung. Wie in meinem Fall.
Bevor mein Sohn geboren wurde, war ich in meiner Partnerschaft sehr unbelastet und bin weitestgehend sorglos durchs Leben gegangen. Vielleicht bin ich sogar ein wenig durch das Leben und meine Partnerschaft geschwebt. Spätestens als ich von der Behinderung meines Sohnes erfahren habe, bin ich von meiner kleinen Wolke gefallen. Plumps – und ich lag auf der Erde. Auf dem Boden der Tatsachen, wie man so schön sagt. Am Anfang unseres gemeinsamem Weges haben uns, meinen damaligen Mann und mich, die Diagnosen enger zusammengeführt und ein Gefühl von

Wir gegen den Rest der Welt

wurde kurzzeitig entfacht. Leider liegt die Betonung auf kurzzeitig. Nachdem der erste Schock, die Traurigkeit und Verzweiflung nachgelassen hatten, habe ich nach und nach begriffen, was eigentlich unser größter „Beziehungsgegner“ war: der Alltag.
Ich habe mich durch die Behinderung meines Sohnes sehr verändert. Sorglosigkeit, Spontanität und Freude sind – zumindest anfangs – durch eine drückende Schwere, Ängste und Kummer ersetzt worden. Der Herzfehler meines Sohnes hat in seinem ersten Lebensjahr mein komplettes Leben und Handeln bestimmt. Evan durfte sich aufgrund seiner Herzerkrankung in den ersten Monaten nicht übermäßig aufregen oder schreien. Ich konnte die Anfangszeit mit Evan nicht genießen, da ich von panischer Angst geplagt war. Ich bin morgens mit der Angst aufgestanden und abends mit der Angst ins Bett gegangen. Die Angst hat mich bestimmt. Während andere Mütter zum Babyschwimmen oder zur Babymassagen gefahren sind, habe ich mir Sorgen gemacht. Schleichend habe ich gemerkt, wie sehr ich mich durch die Erkrankung meines Sohnes verändert habe. Der Alltag und die alltäglichen Sorgen und Anstrengungen haben mich komplett vereinnahmt und keinen Raum für andere Gefühle oder gar Bedürfnisse gelassen. Diese Veränderung hat meine Partnerschaft nicht standgehalten.
Mir ist es wichtig zu betonen, dass ich weder pauschalisieren noch eine Partnerschaft mit einem behinderten Kind in eine Schublade stecken möchte. Es gibt viele Partnerschaften, in denen die gemeinsame Betreuung eines behinderten Kindes die Beziehung der Eltern sogar gefestigt und eine intensiviere Kommunikation hervorgerufen hat. Ich habe einige Freundinnen, die mir berichten, dass die Behinderung des gemeinsamen Kindes über die Jahre eine Zunahme an Geduld, gegenseitiger Rücksichtnahme und Verständnis mit sich gebracht hat. Bei mir war das leider nicht so.
In der ersten Zeit nach meiner Trennung fühlte ich mich erdrückt von all den Problemen. Wohin ich auch blickte, warteten Herausforderungen auf mich. Vor allem aber musste ich auf einmal alle Verantwortung selber tragen und alle Entscheidungen allein fällen. Gerade in medizinischer Hinsicht gab es so viele Fragen, mit denen ich mich hilflos und verloren gefühlt habe. Hinzu kamen noch die Auseinandersetzung mit den Ämtern und Institutionen.
Neben den alltäglichen Problemen und Sorgen beschäftigte mich vor allem mein neuer Status: Alleinerziehend. Es war sehr schwierig, mir einzugestehen, dass meine Lebensplanung von einer „Vater-Mutter-Kind-Familie“ nicht funktioniert hat. Ehrlich gesagt habe ich mich geschämt. Geschämt, da ich es nicht geschafft habe, unsere Familie aufrecht zu erhalten. Versagt war ein Wort, welches in dieser Zeit immer mal wieder an meine gedankliche Tür geklopft hat. Die „Bilderbuchfamilie“ besteht bekanntlich aus Vater, Mutter, Kind. Vielleicht auch zwei Kindern. Ein älterer Junge und ein jüngeres Mädchen. Im richtigen Bilderbuch wären es dann Päpabär, Mamabär und die zwei Kinderbären. Heutzutage gibt es noch viele weitere Variationen wie zum Beispiel Vaterbär & Vaterbär oder Mutterbär & Mutterbär.
Im Laufe der Zeit habe ich gelernt und verstanden, dass ich mich nicht schämen muss. Ganz und gar nicht. Ich muss den Vergleich mit dem Klischee nicht fürchten. Mamabär und Evanbär, das ist unser neues Bilderbuch. Ich habe mich langsam an unsere neue Lebenssituation gewöhnt und mir ein eigenes Leben aufgebaut. Ich habe verstanden, warum ich mich damals so verhalten habe und ich habe meinen Frieden mit mir und der Situation geschlossen. Wenn das Versagen heute an meine Tür klopft, schlage ich ihm ganz einfach die Tür vor der Nase zu.
Einen Neuanfang wagen. Nach einigen Jahren „Beziehungsfreier-Zone“, ist mir – eher schleichend – bewusst geworden, dass ich mir in einigen Situationen wieder einen Partner an die Seite wünschen würde. Am Anfang habe ich diese Gefühle nur schwer zulassen können und sie schnell unter den Teppich gekehrt. Irgendwann wurden jedoch die „Gefühlsberge“ unter dem Teppich so hoch, dass ich sie nicht mehr ignorieren konnte. Es war ein langer Prozess zu akzeptieren, dass ich trotz eines behinderten Kindes, ein Recht auf eigene Bedürfnisse habe.
Wenn man einen Mann neu kennenlernt, dann kommt irgendwann unweigerlich die Frage:

„Hast Du eigentlich Kinder?“

„Ja, habe ich. – Bla Bla Bla – Nee, leider kann er nicht sprechen. Er hat eine Behinderung.

Düt, Düt, Düt. Stille. Die Leitung ist tot. Es wäre gelogen zu behaupten, dass dies nur ein oder zweimal vorgekommen wäre. Es ist nicht immer strikt nach diesem Muster abgelaufen, aber meistens endete es mit einem Freizeichen oder einem sehr schnellen Verlassens des Cafés. Warum ich nicht direkt – unmittelbar – von meinem Sohn erzähle? Keine Ahnung. Manchmal habe ich einfach keine Lust mein komplettes Leben vor einem fremden Menschen auszubreiten und im Detail zu erörtern.
„Entschuldigung, ich bin alleinerziehend und habe ein behindertes Kind.“ Passe ich trotzdem noch in Dein Leben? Wir sind auch ziemlich pflegeleicht.“  
Nein, Evan und ich sind kein: ENTSCHULDIGUNG, ABER. Wir sind kein schlechter Kompromiss. Am Anfang hat mich dieses Fluchtverhalten sehr verletzt. Mittlerweile bin ich dankbar, dass mir diese Männer die Entscheidung, sie weiter kennenlernen zu wollen, so schnell abgenommen haben. Glücklicherweise habe ich auch andere Bekanntschaften gemacht oder bin dabei sie zu machen. Männer, die sich darauf einlassen, unsere „Lebenspakete“ zu öffnen und sich mit diesen auseinandersetzten. Allerdings merke ich auch, dass ich ihnen die Zeit und die Möglichkeit geben muss, unsere Pakete des Lebens zu öffnen, um sich ehrlich damit auseinanderzusetzen.
Ich habe mir in den letzten dreieinhalb Jahren mit Evan eine kleine Welt geschaffen, unsere Welt. Wir haben unsere geregelten Abläufe und Strukturen, ohne die ich unserem Pensum an Therapien, Arztterminen und anderen Verpflichtungen nicht gerecht werden könnte. Jegliche Umverteilung dieser Pflichten und Strukturen machen mich sehr nervös und ich bekomme das Gefühl, die Kontrolle über unser Leben zu verlieren. Dass es ein Leben neben der Behinderung, neben Therapien und Arztbesuche gibt, habe ich lange Zeit verdrängt. Auch wenn es schwierig werden wird, möchte ich meine Vorstellung von einer glücklichen und unbeschwerten Patchwork Familie nicht loslassen und halte daran fest. Evan und ich wissen nicht was die Zukunft bringt, aber wir freuen uns es herauszufinden. Wir haben gelernt, dass es „Bilderbuchfamilien“ sowieso nicht in der realen Welt gibt. Die gibt es nämlich nur auf Bildern in Büchern und meistens als Bären. Basta!
Liebe Philip Julius Leser, ich wünsche Ihnen egal in welcher Familienkonstellation Sie leben, Zufriedenheit und Glück.
Herzlichst
Marcella
Die Kolumne „Anders und doch normal“ von Marcella Becker erscheint monatlich und beschäftigt sich mit Themen, die die meisten wenn nicht gar alle Eltern behinderter Kinder kennen.
Marcella wohnt mit ihrem Sohn Evan (5) in der Nähe von Bremen. Evan hat das hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) und lebt in seiner eigenen, besonderen Welt, denn Evan ist Autist.
Illustration: Eva-Maria Unglaube

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