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Philip Julius

Anders und doch normal (5)

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Liebe Philip Julius Leser,
glücklich trotz Behinderung? Diese Frage beschäftigt mich in letzter Zeit wieder sehr stark. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen der Ansicht sind, ich müsse wohl sehr unglücklich sein, da ich ein behindertes Kind habe und zudem noch alleinerziehend bin.
„Du wirkst so glücklich. Bist Du wirklich glücklich?“
„Wie kannst Du nur so positiv durchs Leben gehen?“
„Du musst doch ziemlich unglücklich sein, oder?“
Diese Fragen bekomme ich häufig gestellt. Und ganz leise schleicht sich die nagende Frage ein: Stimmt es etwa was die anderen Leute sagen? Bin ich etwa nicht glücklich? Kann ich gar nicht wirklich glücklich sein? Wäre ich glücklicher, wenn Evan keine Behinderung hätte?
Ehrlich gesagt wäre es gelogen, wenn ich schreiben würde, dass ich mir vor 5 Jahren mein Leben genauso vorgestellt hätte. Meine Vorstellungen von Familie kamen eher einem Bilderbuch gleich.

Vater, Mutter, Kind. Mutter und Vater sitzen vertraut auf dem Sofa. Die Mutter ist frisch geduscht und top gestylt. Sie war gerade beim Friseur und danach bei der Mani- und Pediküre. Das Kind schläft in der Wiege. Vater und Mutter sind ausgeschlafen. Sie schauen sich verliebt an, wie am ersten Tag. Alles riecht frisch. Die Gardinen sind frisch gewaschen und strahlen um die Wette. Die Wohnung ist frisch geputzt und alles glänzt nur so vor Reinlichkeit.

So ähnlich habe ich mir früher mein zukünftiges Familienleben vorgestellt. In meinem alten Leben. Naiv? Ja, sehr sogar! Wenn ich mein jetziges Familienbild mit dem Vorherigen vergleiche, würde es ungefähr so aussehen: Aus dem mondänen Brüssel ist eine Kleinstadt bei Bremen geworden. Der Mann ist weg und ich sitze alleine auf dem Sofa, total übermüdet. Weder frisch geduscht noch top gestylt. Ewig nicht mehr beim Friseur gewesen. Das Haar besteht nur noch aus Ansatz. Mani- und Pediküre – was ist das?! Ich habe ja noch nicht mal Zeit zum Arzt zu gehen. Die Gardinen wurden seit Wochen (vielleicht auch Monaten oder sogar Jahren) nicht mehr gewaschen und vielleicht müffeln sie sogar etwas. Die Wohnung ist saudreckig und mein Sohn liegt nicht etwa friedlich schlummernd in seinem Bettchen sondern spielt sich lautstark quer durch die Wohnung und hinterlässt seine Spielsachen überall.
Wenn eine Hellseherin mir dieses Szenario damals prophezeit hätte, hätte ich ihr sofort den Vogel gezeigt und wäre erhobenen Hauptes aufgestanden und gegangen. Und heute? Willkommen in meinem Leben.
Früher war ich der festen Überzeugung, dass ich ein Anrecht habe, jeden Tag glücklich und unbeschwert zu sein. Ein behindertes Kind und zudem noch alleinerziehend hat definitiv nicht in meine Lebensplanung gepasst. „Entschuldigung, dieses Leben ist schon komplett vorgeplant und strukturiert. Bitte suchen Sie sich ein anderes!“  wäre meine Antwort an das Schicksal gewesen. Aber so funktioniert das Leben nicht. Das Leben fragt nicht, ob es gerade passt. Das Leben passiert während wir dabei sind andere Pläne zu schmieden und uns unsere Zukunft auszumalen. Das habe ich am eigenen Leib erfahren.
Heute weiß ich, wie anmaßend mein Glaube an das persönliche Anrecht auf Glück und meine alte Sichtweise einer Bilderbuchfamilie doch waren. Zwischen der Erkenntnis und der Einsicht liegen einige Jahre und verschiedenste Emotionen. Nein, ich bin nicht eines morgens aufgewacht und habe mich gefreut, dass Evan eine schwere Behinderung hat. Mit 30 Jahren, ein Alter, in dem viele Menschen ihren Lebensweg schon geplant, ja vielleicht Häuser gebaut und Bäume gepflanzt haben, musste ich noch einmal komplett vor vorne beginnen. Alleine und mit einem schwer behinderten Kind. Es gab keine Emotion, die ich in meiner ersten Trauer- und Scheiß-auf-das-Leben-Phase ausgelassen habe. Ich war wütend, verzweifelt, verletzt, mutlos, enttäuscht und entromantisiert. Ich habe den Glauben an das Leben und an das Glück für einen kurzen Moment verloren. In dieser bestimmten Zeit habe ich mich morgens nach dem Aufstehen schon wieder auf den Abend und die Nacht gefreut. Allein Evans Anwesenheit hat mich in dieser Phase durch den Tag getragen.
Wir müssen bereit sein, uns von dem Leben zu lösen, das wir geplant haben, damit wir das Leben finden, das auf uns wartet. (Oscar Wilde).
Dieser Spruch lief mir während eines unspektakulären Einkaufsbummels über den Weg. Er sprang mich förmlich an und hat mich nicht mehr losgelassen. „Marcella, lass endlich Dein altes Leben los und erfreue Dich im Hier und Jetzt.“ Klick. Ich habe es deutlich gespürt. Irgendetwas hat in diesem Moment Klick gemacht und ich habe langsam begriffen, dass ich mein neues Leben annehmen lernen muss, um die Chance zu haben, wieder glücklich zu sein.
Stück für Stück, Monat für Monat, habe ich mich langsam zurück ins Leben gekämpft. Was sich jetzt ein wenig theatralisch anhören mag, habe ich damals genau so empfunden. Ich habe gekämpft. Jeden Tag ein bisschen mehr und im Laufe der Zeit habe ich durchs Evans Behinderung und meiner Lebenssituation gelernt, den Wert und das Glück in vielen selbstverständlichen Dingen zu sehen. Nicht immer auf die großen Glücksmomente zu warten, sondern die kleinen Momente ebenso wert zu schätzen. Ich habe wundervolle Begegnungen gemacht, einzigartige und ganz besondere Menschen kennengelernt, für die ich sehr dankbar bin. Ohne Evan hätte ich die Welt, in der Old Mc Donald Had a Farm, gespielt auf einer Klobürste und einer Bratpfanne, wundervoll fantastisch klingt, nie kennengelernt.
Wäre ich glücklicher, wenn Evan keine Behinderung hätte? Ich habe mir diese Frage immer und immer wieder gestellt und lange darüber nachgedacht. Ich wollte diese Frage ehrlich beantworten. Aber eigentlich wusste ich die Antwort schon vorher: Nein, das wäre ich nicht. Es würde vielleicht einiges – sogar sehr vieles/fast alles – einfacher machen aber ich wäre nicht glücklicher. Vielleicht wäre ich nicht so oft erschöpft aber ich wäre nicht glücklicher. In meinem Leben vor Evan war ich glücklich, wenn ich Erfolg in meinem Beruf hatte oder wenn ich mir ein schönes neues Kleid gekauft hatte. Heute bin ich glücklich, wenn ich meine, das Wort „Mama“ gehört zu haben oder Evan mir ein paar Sekunden lang tief in die Augen schaut. Ich möchte keines der beiden Glücksgefühle einer Gewichtung unterziehen.
Ich war damals nicht weniger glücklich, nur anders glücklich. Durch Evan habe ich gelernt, was Demut vor dem Leben bedeutet und eine neue Dimension des Glückes kennengelernt. Trotz aller Einschränkungen könnte ich mir mein Leben nicht mehr anders vorstellen. Nicht mehr ohne Evan. Nie wieder ohne Evan.
Wenn aber doch fast alles einfacher ohne diese Behinderung wäre, warum wäre ich dann nicht automatisch glücklicher? Ganz einfach: Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass der Kontrast den Wert des Lebens bestimmt und zwar in allem, was uns begegnet. Auch im Glück. Ganz besonders im Glück. Ich kann das Glücksgefühl mehr und anders schätzen, da ich im Gegenzug auch viele nicht so schöne, ja sogar sehr unglückliche Momente erlebt habe. Mittlerweile bin ich manchmal sogar schon glücklich, wenn ich die Möglichkeit habe, einmal in Ruhe einkaufen zu gehen. Lebensmittel versteht sich. Ich schlender durch den Supermarkt wie andere Frauen durch Shopping Malls und vergleiche in aller Seelenruhe Produkte wie Zewa Tücher oder Bodenreiniger und erfreue mich dabei des Lebens. Ich stehe an einer langen Kassenschlange und freue mich über die bunte Vielfalt der Menschen. Die wiederum denken müssen, dass ich etwas konsumiert haben muss, da ich manchmal nicht aufhören kann, zu grinsen.
Heutzutage ist das Streben nach dem Glück und nach perfekten Momenten allgegenwärtig. Jeder kennt diese perfekten Momente, in denen einfach alles passt und sich gut anfühlt. Ein Augenblick, den man am liebsten gar nicht mehr loslassen möchte. Einmal keine Krisen oder Tiefpunkte zu erleben. Heutzutage ist es fast wie ein Trend. Bist Du glücklich? Ja, ich bin sehr glücklich. Oh, wie schön! Willkommen im Club. Im Club der Glücklichen!  Es gibt Anleitungen und Formeln zum Glücklichsein. Ratgeber für ein glückliches und unbeschwertes Leben finden sich in den regelmäßig in den Bestsellerlisten. Aber kann man wirklich nur in den perfekten Momenten glücklich sein und lässt sich das Glück wirklich in eine Formel packen? So ähnlich wie 1+1=2 oder gesund=glücklich und behindert=unglücklich?
Ganz ehrlich, ich brauche keine Glücksformel, denn das Wichtigste, was ich durch Evan gelernt habe, ist, auch in den nicht perfekten Momenten glücklich zu sein. Und glauben Sie mir, davon gibt es reichlich viele in unserem Alltag. Ich laufe nicht nur grinsend durchs Leben. Ich bin oft, sehr oft sogar, verzweifelt und stoße an meine Belastungsgrenzen und bin psychisch und physisch erschöpft. Unser Leben gleicht einer Tragikomödie in all seiner Schönheit und Vollkommenheit aber genauso in seiner Anstrengung und Mutlosigkeit bis hin zur vollkommenen Erschöpfung. Oft sind Tragödie und Komödie so eng in unserem Alltag miteinander verknüpft, dass ich die Ausprägungen manchmal selber nicht mehr unterscheiden kann.
Für die nicht so guten Tage habe ich über die Jahre gelernt, dass es auch eine Kunst ist, Dinge so anzunehmen wie sie sind. Nicht immer zwanghaft versuchen, das Positive zu suchen. Dinge für einen Moment, einen Tag oder sogar einer Woche so hinzunehmen wie sie sind.Mittlerweile gestehe ich mir auch zu, Dinge und Gegebenheiten zu betrauern. Ich musste akzeptieren lernen, dass es an manchen Tagen einfach schwer bleibt, etwas Positives zu finden. Egal wie sehr und wie lange ich suche. Und wissen Sie was? Das ist gut so. Nicht jeder Tag muss mit einem erzwungenem Super-Happy-End enden.
Ich wurde schon oft gefragt, ob ich mir nicht ein gesundes Kind wünschen würde. Ich kann diese Frage gar nicht beantworten. Natürlich würde ich mir wünschen, dass Evan gesund ist. Ganz besonders, vom ganzen Herzen, würde ich mir wünschen, dass sein halbes Herz zu einem Ganzen mutiert. Aber so ist es nun mal nicht und so wird es auch nie sein. Warum soll ich mir also darüber den Kopf zerbrechen. Und mir mein Kind anders vorstellen? Das kann und will ich nicht!
Wenn man ein schwer chronisch krankes Kind hat, gerät die Welt ins Wanken und man bekommt einen anderen Blickwinkel. So anstrengend der Tag auch gewesen sein mag, ich bin einfach dankbar, dass Evan noch am Leben ist und dass es ihm gut geht. Ich habe im Laufe der Zeit schon einige liebe Eltern kennengelernt, die ihre Kinder verloren haben. Diese Bedrohung jeden Tag aufs Neue zu spüren, ist einfach unbeschreiblich. An manchen Tagen bleibt mein Happy End aus. Zumindest bis Evan schläft. Denn spätestens, wenn ich abends in sein Zimmer gehe und sehe, wie friedlich er in seinem Bett liegt, erkenne ich mein ganz eigenes kleines Happy End.
Warum ich weiterhin positiv durchs Leben gehe? Ehrlich gesagt, frage ich mich das an manchen Tagen auch, aber Evan und ich lassen uns nicht unterkriegen. Wir lieben das Leben und halten an unserer positiven Einstellung fest. Ich fühle mich gesegnet, einen so wundervollen und lebensfrohen Sohn zu haben und würde ihn mir, wenn ich könnte, immer wieder genauso wünschen. Genauso.
Wenn mich also jemand fragt: Glücklich trotz Behinderung? würde ich antworten: Ja, sehr sogar – meistens zumindest. Das eine schließt das andere nicht aus, denn Glück kennt keine Behinderung. Bei uns zu Hause zumindest!
Liebe Philip Julius Leser,
ich wünsche Ihnen vom ganzen Herzen, dass Sie das große Glück in den kleinen Dingen finden und diese als Bereicherung empfinden können.
Herzlichst
Marcella
Die Kolumne „Anders und doch normal“ von Marcella Becker erscheint monatlich und beschäftigt sich mit Themen, die die meisten wenn nicht gar alle Eltern behinderter Kinder kennen.
Marcella wohnt mit ihrem Sohn Evan (5) in der Nähe von Bremen. Evan hat das hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) und lebt in seiner eigenen, besonderen Welt, denn Evan ist Autist.
Illustration: Eva-Maria Unglaube

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