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Philip Julius

Anders und doch normal (12)

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Liebe Philip Julius Leser,
jetzt ist es schon eine Weile her, dass ich mich zu Wort gemeldet habe und viel ist in der Zwischenzeit passiert. Sehr viel. Das einschneidendste jedoch: Aus 3 wurden 4. Mein kleiner großer Michel (Evan) ist großer Bruder geworden. Hip Hip Hurra!
Und ich? Ich bin jetzt eine zweifache Mama.
An manchen Tagen muss ich immer wieder in den Kinderwagen schauen, um mich dieser Tatsache zu vergewissern. Ehrlich gesagt, hätte ich nicht mehr damit gerechnet. Aber wie sagt man so schön:
Leben ist das, was passiert, wenn wir fleißig dabei sind, andere Pläne zu machen.

So auch bei mir. Aus Evan, mir – ich nenne die restlichen Personen aus unserer Familie jetzt einfach mal Nummer 3 und Nummer 4 – ist eine richtige Patchwork Familie geworden. Toll, oder? Eigentlich schon. Eigentlich…
Patchwork
Früher – in der Zeit, die ich mit Evan alleine verbracht habe – habe ich mir oft ausgemalt wie  eine Patchwork Familie idealtypisch funktioniert. Aus mehreren Personen wird über Nacht eine neue Familie. Ganz harmonisch. Ganz friedlich. Und mit sehr viel Liebe umgeben. Okay, das ist jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben aber so ähnlich habe ich es mir vorgestellt.
Die Realität? Dies sieht etwas anders aus. Ich glaube, eine Patchwork Familie mit einem gesunden Kind zu gründen ist schon schwer. Mit einem behinderten Kind ist es an manchen Tagen unheimlich harte Arbeit und recht wenig harmonisch.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir von Anfang an, sehr viele Sorgen gemacht. Kann ich dem neuen Kind gerecht werden? Dem Partner? Doch wenn ich noch ehrlicher bin, dann galt meine größte Sorge von Beginn an Evan. Kann ich Evan noch gerecht werden? Kann ich meinem besonderen Kind noch genug Aufmerksamkeit schenken, wenn ich einen neuen kleinen Erdenbürger zu behüten habe? Mich hat dieses Thema so sehr beschäftigt, dass ich sogar öfter in meinen Träumen davon heimgesucht wurde. Immer und wieder schweiften meine Gedanken zu dem Thema. Ich habe Evan gegenüber sogar ein schlechtes Gewissen bekommen. Darf ich überhaupt ein zweites Kind bekommen? Ich habe doch schon ein Kind, welches so viel Aufmerksamkeit einfordert. Wie wird Evan es aufnehmen? Wird er sehr eifersüchtig sein?
Für einige Leser mag es vielleicht abstrus oder gar idiotisch klingen, aber so, genau so, habe ich empfunden. An manchen Tagen war es sogar so schlimm, dass ich mich körperlich richtig schlecht gefühlt habe. Ich stand in einem aufgeladenen Spannungsfeld und schwankte zwischen den beiden Polen Vorfreude auf das Baby und schlechtem Gewissen gegenüber Evan.
Ich habe nicht mit vielen Freunden über dieses Problem gesprochen, da ich mich geschämt habe. Ich habe mich geschämt, meinem neuen Kind so wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht zu haben. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht genau woher diese Gefühle stammen. Ich habe mir oft die Frage gestellt, ob es anders wäre, wenn es keine Patchwork Konstellation gewesen wäre.
Häufig habe ich das Gefühl, Evan den fehlenden Vater ersetzen zu müssen. Die Mutter und Vaterrolle gleichermaßen einnehmen zu müssen. Immer zu kompensieren. Immer abzuwägen, ob beide Kinder auch wirklich gleich viel Liebe und Aufmerksamkeit bekommen.
Familie
Wenn ich an Familie denke, dann denke ich an einen großen Tisch. Wir sitzen alle zusammen an diesem Tisch. Lachen, reden, essen und tauschen uns aus. Wir sind zusammen glücklich. Unsere Realität sieht jedoch meist anders aus. Evan bleibt nicht sitzen und möchte meistens auch lieber alleine essen. Ihn zu zwingen bringt gar nichts und tut man es doch, dann führt das zu massivem Protest.
Mit Evan ist es fast unmöglich, ein normales Familienleben zu führen. Die Dinge zu tun, die eine normale Familie eben so tut. Ein einfacher Spaziergang oder eine kleine Radtour enden meistens in einer Katastrophe, weil irgendein Umstand nicht seinen Vorstellungen entspricht. Es fühlt sich jedes Mal nach einer Wundertüte an. Irgendwie hat man immer die Hoffnung, dass man dieses Mal endlich etwas Schönes in der Tüte vorfindet und wenn man sie öffnet ist es schon wieder das gleiche Plastikmännchen wie letztes Mal.
Ich habe das tiefe Bedürfnis nach einem harmonischen und liebevollen Familienleben. Ich stelle mir vor wie schön es wäre, einen Ausflug zu erleben, der nicht in einem Fiasko endet. Ich bin Profi in dem Auffinden der entlegensten Spielplätze oder der einsamsten Radtouren aber auch trotz dieser Einsamkeit haben wir immer noch eine Wundertüte dabei.
Bedürfnisse
Evan und ich haben eine lange Zeit alleine gelebt. In meinem Leben gab es nur meinen kleinen Michel. Nur eine Person mit Bedürfnissen und Wünschen. Mittlerweile gibt es noch zwei andere … und mich. Jedem gerecht zu werden fällt mir sehr schwer. Ich habe das Gefühl, meine Zeit nicht richtig aufzuteilen und fühle mich schuldig. Wie ich es auch einteile, es ist falsch. Wie ich es auch mache, einer ist immer unglücklich.
Es fiel mir sehr schwer diesen Artikel zu schreiben. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht so genau warum. Ich habe kein Problem offen über meine Gefühle und Erfahrungen zu schreiben aber irgendetwas ist bei diesem Artikel, bei diesem Thema, anders. So viele verschiedene Gefühle kommen in mir auf und ich weiß nicht wohin mit ihnen. Ich mache mir so viele Gedanken über die perfekte Patchwork Familie, dass ich eine wichtige Tatsache dabei ganz vergessen habe: zu leben. Einfach Familie zu leben. Ich habe mir von Bilderbüchern und der Außenwelt so viel einreden lassen, dass ich dabei das “Familie-Leben“ komplett außer Acht gelassen habe.
Mit der Zeit habe ich verstanden (oder besser gesagt, ich bin dabei zu verstehen), dass Familie nicht zwingend bedeuten muss, dass alle lachend zusammen an einem Tisch sitzen. Wie man Familie lebt entscheidet man selber und nicht die Außenwelt. Mit Evan sind viele typische Familienaktivitäten nicht möglich. Das ist traurig für mich und es ist auch in Ordnung diese Tatsache zu bedauern und zu betrauern aber genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, ist es, sich darauf zu konzentrieren welche Dinge wir zusammen machen können. Nur weil wir nicht zusammen in der Eisdiele sitzen, sind wir nicht weniger Familie. Ich liebe meine Kinder von ganzem Herzen. Und nur das zählt. Egal, ob wir zusammen essen oder nicht.
Liebe Philip Julius Leser, versuchen wir uns zu befreien von gesellschaftlichen Zwängen. Oft ist es mit einem behinderten Kind nicht möglich das „typische Familienleben“ zu führen und das ist in Ordnung. Lassen Sie sich nicht in Schubladen stecken, in die Sie nicht wollen. Nehmen Sie keine Rollen an, die Sie nicht spielen möchten. Befreien Sie sich von sämtlichen Bilderbüchern und schreiben Sie Ihre eigenen Familiengeschichten. Evan, Nummer 3, Nummer 4 und ich sind gerade dabei dieses zu tun. Und was soll ich sagen: Es fühlt sich richtig an.
Herzlichst
Marcella
Die Kolumne „Anders und doch normal“ von Marcella Becker beschäftigt sich mit Themen, die die meisten wenn nicht gar alle Eltern behinderter Kinder kennen.
Marcella wohnt mit ihrem Sohn Evan (5) in der Nähe von Bremen. Evan hat das hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) und lebt in seiner eigenen, besonderen Welt, denn Evan ist Autist.
 
 
 
 

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