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Philip Julius

Willkür der Kassen

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Ob eine Leistung bewilligt wird oder nicht, ist laut einer aktuellen Studie ganz erheblich von der Kasse abhängig. Häufig werden Anträge in erster Instanz abgelehnt. Der Kampf kann sich jedoch lohnen. So auch bei Familie Frehe aus Schlangen bei Paderborn.
Der fünfjährige Paul Frehe ist mehrfach schwerstbehindert. Er kann nicht allein sitzen, nicht laufen. Er kann seine Hand nicht allein zum Mund führen. Mama Natascha oder Papa Carsten müssen ihn füttern. Paul leidet an Epilepsie und hat Probleme mit der Lunge. In den Nächten braucht er eine Atemunterstützung, die häufig um die Gabe von Sauerstoff ergänzt werden muss. Rund um die Uhr muss jemand für Paul da sein, denn er kann nicht um Hilfe rufen, wenn es ihm schlecht geht oder er einen epileptischen Anfall erleidet.

Carsten, Paul und Natascha © Lumoid Photo Nadine Lotze

Jedoch auch Eltern müssen schlafen. Am besten in der Nacht, da Papa Carsten berufstätig ist. Daher beantragt die Familie Unterstützung. Ein Intensivpflegedienst soll sich in der Nacht um Paul kümmern, ihn überwachen, sodass die Eltern einmal eine Pause von der aufwändigen Pflege haben. Doch die Barmer lehnt den Antrag ab mit der Begründung, Pauls Allgemeinzustand sei nicht kritisch genug um eine Nachtpflege zu rechtfertigen. Außerdem habe die Familie ja einen Assistenzhund. Dieser sei schließlich dafür da, bei der Überwachung von Paul zu unterstützen.
Die Familie geht nach mehreren Widersprüchen, die die Barmer allesamt ablehnt, vor das Sozialgericht. In petto hat sie Arztberichte, die deutlich machen, dass Paul ohne eine nächtliche Intensivversorgung in Lebensgefahr schweben würde. Vor Gericht erhält die Familie einstweiligen Rechtsschutz für einen Zeitraum von neun Monaten, also eine Garantie, dass für die Zeit der erneuten Prüfung des Antrags die beantragte Leistung gewährt wird. In dieser Zeit sollte die Barmer die vorhandene Krankendokumentation des aktuellen Pflegedienstes auswerten.
Nach Ablauf des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt die Familie die Leistungen erneut. Die Barmer lehnt mit der Begründung ab, sie habe auch schon den letzten Antrag abgelehnt. Pure Ironie. Es erfolgt auch keine Prüfung von Pauls aktuellem Gesundheitszustand. Die Familie Frehe geht ein zweites Mal vor das Sozialgericht und der Richter spricht der Familie wieder im einstweiligen Rechtschutz die häusliche Nachtpflege für sechs Monate zu.
Nach Ablauf der Frist beginnt der Kampf von vorn. Die Familie beantragt eine Verlängerung der Nachtpflege und die Barmer lehnt zum dritten Mal ab. Der gesamte Prozess dauern nun schon über eineinhalb Jahre. Eineinhalb Jahre des Bangens um Pauls Gesundheit und um die eigenen Kraftressourcen.
Erneuter Gang vor das Sozialgericht. Frehe gegen Barmer. Und wieder kümmerte sich die Barmer nicht um eine Überprüfung von Pauls Gesundheitszustand, der sich zwischenzeitlich deutlich verschlechtert hatte. Zur Akte wird jedoch ein MDK-Gutachten für Paul von Anfang 2016 genommen. In diesem bescheinigt der Gutachter Hilfebedarf. Hiervon will die Barmer nichts hören. Das seien lediglich Ratschläge, die letztliche Entscheidung trüge die Krankenkasse.
Die Situation ist für die Familie mittlerweile unerträglich geworden. „Was wäre,“ fragt sich Natascha Frehe, „wenn die Entscheidung gegen uns fällt und wir plötzlich ohne Hilfe dastehen? Allein kann man nicht 24 Std. am Tag wachsam sein. Ich habe Angst um das Leben meines Kindes.“
Die Familie zieht sich ins Kinderhospiz Bethel zurück. Sie wird dort kurzfristig aufgenommen. Ehepaar Frehe ist mit der Kraft am Ende und benötigt dringend Entlastung, positive Impulse, neue Energie. Für die Barmer ein gefundenes Fressen. Im Hospiz wird die Pflege von Paul Tag und Nacht gewährleistet. Also besteht keine Dringlichkeit für eine Entscheidung über die Nachtpflege. So begründete die Barmer, als das Sozialgericht um Stellungnahme bittet. Auch eine Übernahme der Prozesskosten wird auf Basis des Aufenthaltes im Hospiz abgelehnt. „Das ist absoluter Irrsinn“, findet Natascha Frehe. „Die Barmer kennt jedes noch so kleine Hintertürchen und schlüpft hindurch. Solange, bis wir klein beigeben.“
Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) wird im Sommer 2017 nun endlich erneut zur Begutachtung des Falles eingeschaltet. Er bescheinigt der Familie die unbedingte Notwendigkeit der permanenten Überwachung von Paul. Und somit den Bedarf an Nachtpflege. Die Voraussetzungen für die Behandlungspflege in den nächtlichen Stunden ist vollkommen erfüllt. Die Familie ist erleichtert und hofft nun, auf eine baldige endgültige Genehmigung der Krankenkasse. Doch die Krankenkasse rührt sich nicht.
Der Fall Frehe ist kein Einzelfall. Eine im Juni diesen Jahres veröffentlichte Studie des Berliner IGES-Instituts zeigte, dass es in hohem Maße vom Gutdünken der Kasse abhängig ist, ob eine Leistung genehmigt wird oder nicht. Im Bereich Vorsorge und Rehabilitation beispielsweise lehnen die Kassen im Durchschnitt fast jeden fünften Antrag zunächst einmal ab. Die landwirtschaftliche Krankenkasse hat mit 8,4 Prozent die niedrigste Ablehnungsquote, die AOKs und Ersatzkassen dagegen haben eine mehr als doppelt so hohe. Ex-Patientenbeauftragter Karl-Josef Laumann (im Amt bis 05.06.2017) hatte die Erhebung beauftragt. Sein Fazit: „Die Unterschiede sind größtenteils nicht nachvollziehbar und gehören unverzüglich abgestellt.“
Durchschnittlich lehnen die Kassen in Deutschland über alle Leistungsbereiche hinweg rund 5,2 Prozent aller Anträge ab. Einzelne Leistungsbereiche fallen jedoch durch eine besonders hohe Absagenquote auf. Dazu zählen unter anderem stationäre Präventionsleistungen wie etwa Vorsorgekuren oder Mutter-Vater-Kind-Angebote. In 2015 wurde etwa jeder dritte Antrag aus diesem Bereich negativ beschieden.
Große Schwankungsbreiten zeigen sich auch beim Thema Hilfsmittel. Die durchschnittliche Ablehnungsquote liegt nach Erkenntnissen aus der IGES-Studie bei 12,5 Prozent. Je nach Krankenkasse schwankt sie zwischen 2,3 Prozent und 24,5 Prozent.
Laumann kritisierte bei der Vorstellung der Studie scharf, dass Kassen offenbar erst dann Leistungen genehmigten, wenn ein Widerspruch erfolge. Im Bereich Vorsorge und Rehabilitation widerspreche beispielsweise etwa jeder vierte Versicherte dem Bescheid und jeder zweite sei damit erfolgreich. „Da kann mit der Bewilligungspraxis etwas nicht stimmen“, so Laumann. Versicherte müssten darauf vertrauen können, dass die Kassen sich an das Gesetz halten und im Einklang mit diesem Entscheidungen träfen. Leistungen, die einem Versicherten zustehe, müsse dieser auch bekommen. Der Verdacht, Kassen würden bestimmte Leistungen zunächst systematisch ablehnen, dürfe keinesfalls aufkommen. „Ein solches Verhalten untergräbt das Vertrauen der Versicherten massiv“, betont Laumann im Pressegespräch.
Familie Frehe möchte das Gebaren der Barmer nichtmehr hinnehmen. Sie wendet sich in einem Facebook-Post an die Öffentlichkeit schildert dort ihren Fall. Der Beitrag wurde mit heutigem Stand 1.264 mal geteilt und 193 mal kommentiert. Andere Facebook-Nutzer sprechen der Familie Mut zu, feuern sie an im Kampf gegen ihren persönlichen Goliath.
Die Barmer reagiert prompt. Sie will schnellstmöglich Schadensbegrenzung betreiben und genehmigt umgehend den Antrag der Familie Frehe auf Nachpflege für Paul. In nur 12 Stunden ist der Kampf, der sich seit Herbst 2015 währt, beendet. Die Anwältin der Familie erhält umgehend ein Schreiben, in welchem die Barmer die volle Kostenübernahme von 2015 bis Ende 2017 zusagt. Was jedoch Ende 2017 geschieht, wenn die Familie einen neuen Antrag stellen muss, geschieht, kann keiner sagen.
„Wir werden weiter kämpfen. Und ich empfehle jeder Familie für ihr Recht einzutreten“, sagt Natascha Frehe im Gespräch mit uns. „Manchmal gewinnen auch die kleinen.“

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