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Philip Julius

„Erzähl doch mal …. Carmen!“

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Am Tag ihrer Taufe hörte Kerstin auf zu atmen. Einfach so. Ohne Anzeichen. Aus einem gesunden Baby wird in dieser Nacht ein schwerstbehindertes Kind. Heute ist Kerstin 38 Jahre alt und ihre Schwester Carmen erzählt uns von einer Kindheit mit besonderen Umständen.
Die Rubrik „Erzähl doch mal…!“ erscheint monatlich auf unserer Homepage und stellt jeweils eine Familie mit einem besonderen Kind vor. Hier werden individuelle Geschichten erzählt und Wünsche und Ziele geteilt, die alle in erster Linie eines tun sollen, nämlich Mut machen.

Carmen Zwahr_Erzähl doch mal Carmen

Wie sieht Deine Familie aus?
Ich, Carmen (41), erzähle nicht als Mutter sondern als älteste von drei Schwestern. Kerstin (38) ist drei Jahre jünger als ich und schwerstbehindert. Außerdem haben wir noch eine kleine Schwester, die neun Jahre jünger ist.
Meine Eltern wohnen schon lang alleine, denn Kerstin ist seit einigen Jahren in einem Pflegeheim untergebracht und meine kleine Schwester ist, genau wie ich, selbst inzwischen Mutter einer kleinen Tochter. Wir wohnen beide mit unseren Familien eigenständig und geographisch sehr weit auseinander.
Wann und wie hast Du von der Behinderung Deiner Schwester erfahren?
Meine Schwester Kerstin hat am Tag ihrer Taufe im Alter von sechs Wochen in der Nacht das Atmen eingestellt. Ohne Vorwarnung. Ohne Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Meine Eltern haben sie blau angelaufen und nur noch röchelnd aus dem Kinderbett geholt und sind sofort ins Krankenhaus gerast. Damals war ich drei Jahre alt und ich erinnere mich noch heute an viele Bilder dieser Nacht.
Inwiefern ist Deine Schwester beeinträchtigt und wie gehst Du damit um?
Kerstin blieb an diesem Tag ihres Unfalls quasi in ihrer Entwicklung stehen. Durch den Sauerstoffmangel ist sie zudem erblindet. Sie hat eine große Spastik, eine inzwischen sehr heftige Skoliose und wird über eine Bauchsonde ernährt.
Die Nacht von Kerstins Taufe geistert seither als Erinnerungsfetzen durch mein Bewusstsein und ich habe einige Jahre gebraucht, um zu lernen, mit ihnen umzugehen.
Bis heute frage ich mich häufig, hätte ich das Geschehene verhindern können. Natürlich ist das verrückt, denn ich war ja erst drei Jahre alt.
Ich sehe Kerstin, dadurch dass ich in Berlin lebe und sie in Nordhessen, leider nicht so häufig wie ich gern würde. Meine Eltern jedoch besuchen Kerstin mehrmals pro Monate, obwohl sie bereits im fortgeschrittenen Alter sind. Ich spüre, dass die Situation sie belastet und sie bis heute starke Schuldgefühle haben. Was wäre gewesen, wenn sie nicht vor Müdigkeit nach der Feier auf der Couch eingenickt wären? Was wäre, wenn sie doch Anzeichen bemerkt hätten, dass mit Kerstin etwas nicht stimmte? Hätte Kerstin dann eine Chance gehabt? Hinzu kommt, dass meine Eltern recht weit fahren müssen, um Kerstin zu sehen. Das zehrt ebenfalls an ihren Kräften.
Ich beoachte dies von außen und wünsche mir eine Veränderung. Doch weiß ich leider (noch) nicht, wie diese aussehen könnte.

Familie Zwahr_Erzähl doch mal Carmen

Wie kommst Ihr mit der besonderen Familiensituation zurecht?
Kerstin war sehr präsent in meiner Kindheit. Ich erinnere mich an sie aber nicht wie an eine Last, sondern Kerstin war für unsere Familie eine Stütze. Sie wirkte als Ruhepol.
Gleichzeitig war das Zeitbudget unsrer Eltern natürlich heiß umkämpft. Kerstin haben wir aber dafür nie Vorwürfe gemacht.
Belastend waren zu dieser Zeit eher die Reaktionen von außen. Wenn ich mit Kerstin im Kinderwagen spazieren ging, dann konnte das ein Spießrutenlauf werden. Ihre Behinderung war nicht niedlich, sondern meine Schwester hatte schon damals Deformationen, sackte in sich zusammen, ihre Zunge hing häufig aus dem Mund. Viele Menschen, denen wir begegnet sind, hat das irritiert. Ich hätte mir jedoch gewünscht, sie hätten das nicht so deutlich gezeigt.
Vor meinen Eltern ziehe ich bis heute den Hut. Sie haben sich großartig um uns alle drei gekümmert und haben es in bewundernswerter Weise geschafft, die Situation zu akzeptieren und das beste aus ihr zu machen. Wir waren als Familie in dieser Zeit trotz der Umstände sehr glücklich und stabil.
Schwierig wurde es erst, als Kerstin in das Pflegeheim umzog.
Wie sieht Dein Alltag aus?
Früher war mein Alltag durch viel pflegerische Arbeit geprägt und ich war es gewohnt, meine Schwester immer an meiner Seite zu haben. Immer wenn ich von der Schule nach Hause kam, war sie da und ich konnte mit ihr lachen oder in ihrem Schoß weinen. Wir haben alles miteinander geteilt, was uns bewegte. Es gab in meiner Kindheit keinen Tag, an dem wir getrennt waren. Wir waren quasi symbiotisch.
Nachts habe ich Kerstin, solang wir beide zuhause lebten, immer mindestens einmal umgelagert, damit meine Mutter nicht mehrmals pro Nacht aufstehen musste.
Heute lebe ich mein eigenes Leben. Ich bin selbständige Unternehmensberaterin mit Schwerpunkt Personalmanagement und lebe in der Hauptstadt. Ich habe einen Lebensgefährten und eine kleine Tochter. Der Spagat zwischen Familie und Beruf ist, wie für alle berufstätigen Mütter, manchmal einfacher und manchmal schwerer zu bewältigen.
Ich versuche, Kerstin so häufig es geht zu besuchen oder zumindest mit ihr zu skypen. Natürlich skypen in Wahrheit meine Eltern mit mir, aber sie halten das Handy nah neben Kerstin und sie kann dann meine Stimme hören. Ich mag den Gedanken, dass sie sich darüber freut.
Was macht Dich im Alltag glücklich? Und welche Momente sind hingegen besonders schwer?
Mich macht glücklich zu wissen, wenn Menschen die ich liebe und/oder mit denen ich freundschaftlich verbunden bin, gesund und glücklich und zufrieden sind. Mich macht es glücklich, wenn die Sonne scheint und mein Kind mich anlacht.
Es macht mich glücklich, wenn einmal ein Tag unverplant ist und ich ihn einfach so, wie es sich spontan in jeder einzelnen Sekunde richtig anfühlt, leben kann. Das ist Luxus.
Glücklich und traurig zugleich macht mich jeder Besuch bei Kerstin. Wenn ich zur Tür herein komme, dann lacht sie und freut sich unheimlich, dass ich da bin. Sie spürt mich machmal, bevor ich etwas sage. Das sind Momente, in denen ich mir wünsche, ich wäre näher dran.

Carmen und Kerstin Zwahr_Erzähl doch mal Carmen

Wer betreut Deine Schwester? Wie habt Ihr die Pflege organisiert?
Kerstin lebt bereits seit nunmehr 14 Jahren in einem Schwerstpflegeheim in Nordhessen und wird dort betreut. Vorher wurde sie fast 25 Jahre zu Hause gepflegt.
Die Entscheidung, Kerstin ausziehen zu lassen, ist uns allen, insbesondere meinen Eltern, sehr schwer gefallen. So lange es Kerstin gesundheitlich gut ging, war die Pflege zuhause auch kein Problem. Als sie jedoch ab einem gewissen Punkt immer häufiger und ernster krank wurde und meine Eltern zunehmend älter, da haben sie sich aus der Not heraus entschieden.
Ich weiß, dass meine Eltern diese Entscheidung häufig bereut haben. Das Heim, wo Kerstin heute lebt, ist leider nicht ideal und es kommt seit einer gewissen Zeit häufig zu Spannungen. Wir würden uns mehr Förderung für Kerstin wünschen. Wir würden uns wünschen, dass öfters jemand mit ihr rausgeht in den Park, damit sie frische Luft atmen und den Vögeln beim Singen zuhören kann. Wir würden uns wünschen, dass ihre Sinne mehr stimuliert, Betreuer sich mehr Zeit für sie und ihre Bedürfnisse nehmen würden.
Wir überlegen, Kerstin umzuziehen. Wir schauen uns aktuell nach Einrichtungen um, die vielleicht mehr leisten könnten, als reines Pflegen. Doch es gibt leider sehr wenige, die jungen Menschen über 18 gerecht werden können. Von Philip Julius e.V. habe ich mich beraten lassen. Nun haben wir eine Liste. Eine kurze Liste zwar, aber immerhin. Dies ist schonmal ein Anfang.
Was bedeutet Urlaub für Euch?
Als ich noch Kind war, bedeutete Urlaub einfach nur, dass keine Schule anstand. Mit meiner Familie habe ich, bis auf ein einziges Mal – wenige Tage in den Alpen, die letztlich für uns alle sehr strapaziös waren – leider nie Urlaub in Form von Reisen machen können.
Gründe dafür waren die finanzielle Situation unserer Familie und die annährend unmögliche Reiseorganisation aufgrund der Schwere der Behinderung meiner Schwester. Damals gab es noch kaum bis keine Anbieter, die sich auf Behinderte spezialisiert hätten.
Seit ich von zu Hause ausgezogen bin, bin ich Weltenbummlerin und bin inzwischen durch über 60 Länder – auch teilweise mit meiner eigenen kleinen Tochter – gereist. Mich packt immer wieder das Fernweh.
Wenn Ihr als Familie gemeinsam Urlaub macht, wie plant Ihr?
Früher waren wir, wie bereits erwähnt nur einmal unterwegs und das mit immensem Aufwand in Planung und dann vor Ort. Erholsam war das für keinen von uns, insbesondere da so viele Hoffnungen und Wünsche auf dieser Reise lagen.
Heute gehen meine kleine Familie und ich ganz spontan auf Reisen in der ganzen Welt. Wir planen wenig, obwohl wir nun ja auch unsre Tochter dabei haben.
Wo habt Ihr Euren schönsten Urlaub verlebt?
Mein schönster Urlaub war auf einer Halbinsel in Thailand an einem fast einsamen Strand, mit unbegrenzt Jasmintee, tollem Essen und in einem Garten Eden.
Welche Wünsche und Pläne habt Ihr für die Zukunft?
Wir würden gern eine Wohnung oder ein Haus kaufen und es selber gestalten und mit Leben füllen. Außerdem ist mein Drang zu reisen weiterhin ungebrochen.
Für Kerstin wollen wir Veränderung forcieren. Sollten wir keine andere Einrichtung für sie finden, dann muss sich vor Ort etwas ändern. Leider wird dies jedoch nicht seitens der Einrichtung selbst geschehen. Daher haben meine Eltern eine Studentin engagiert, die zweimal pro Woche zu Kerstin geht. Sie ist Krankengymnastin und studiert nun Pädagogik mit Schwerpunkt auf behinderte Menschen. Sie soll mit Kerstin rausgehen, ihr Zuwendung geben. Das eröfnet neue Perspektiven, gibt uns aber gleichzeitig auch die Möglichkeit, mehr Kontrolle auszuüben darüber, was mit Kerstin geschieht. Meine Eltern ziehen daraus viel Kraft. Und ich dadurch auch.
Sie haben Interesse, Ihre Geschichte mit uns zu teilen? Dann freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme unter info@philip-julius.de. 

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