Überspringen zu Hauptinhalt

Philip Julius

Anders und doch normal (4)

Beratungsstelle
Pflege
Urlaub
Wohnen
Netzbrief
Spenden

Liebe Philip-Julius Leser,
vor ein paar Tagen ist mir beim Entrümpeln meiner Unterlagen mein altes Poesie-Album (ich glaube heute nennt man es Freundschaftsbuch) in die Hände gefallen.
“Rosen, Tulpen, Nelken,
alle drei verwelken,
aber wie das Immergrün
soll stets unsere Freundschaft blühn“.
Dieser Spruch ist mir direkt auf der ersten Seite entgegen gesprungen. Er hat mich förmlich angelacht und mich direkt in meine Schulzeit und Jugend zurückversetzt. Ich habe mich zwischen all meinen Freunden und Klassenkameraden glücklich auf dem Schulhof gesehen. Ein Gefühl der Leichtigkeit und Unbeschwertheit überkam mich. Früher war es so einfach Freundschaften zu schließen und zu pflegen. Und heute? Ist es unheimlich schwer. Das Gefühl der Leichtigkeit und Unbeschwertheit ist dem Gefühl der Schwere und Gewichtigkeit gewichen.
Freundschaft. Was für ein schönes und kostbares Gut. Das Thema ließ mich nicht mehr los und hat mich die letzten Wochen sehr beschäftigt. Was ist aus der Leichtigkeit und Unbeschwertheit geworden? Warum fällt es mir heute so schwer, Freundschaften zu pflegen?
Ich bin ein sehr sozialer Mensch und habe gerne Menschen um mich herum. Es fällt mir nicht schwer, Kontakte zu knüpfen und neue Leute kennenzulernen. Ganz im Gegenteil, ich gehe gerne auf Leute zu. Wenn man mein Facebook und Instagram Account sieht, scheint alles perfekt zu sein.
„Wow, sie hat aber viele Freunde. Sie muss wirklich glücklich sein.“ 
Eine Momentaufnahme. Ein kurzer Augenblick und alles scheint ganz klar zu sein. Ganz offensichtlich. Total logisch. Und wissen Sie was? Ja, ich bin glücklich und ja, ich habe wunderbare Freunde. Ein behindertes Kind zu haben, heißt nicht automatisch, dass man ein einsamer und mitleiderregender Mensch ist, der nur zu Hause sitzt und in sein Kissen weint. Sie glauben gar nicht, wie oft ich in diese Schublade gesteckt werde. Aber wie sagt man so schön: Alles im Leben hat zwei Seiten. Meistens überwiegt die Positive. Das schöne Bild. Die Momentaufnahme. Die eine Seite.
Die andere Seite? Die verstecke ich oft hinter einer Fassade. Die eine, die immer lacht. Die starke Mutter, die alles schafft und dabei immer so blendend aussieht und strahlt. Was mir früher so leicht gefallen ist, kostet mich heute unendlich viel Kraft. Mit einem behinderten Kind ein intaktes soziales Leben zu führen, ist sehr schwer. Manchmal fast unmöglich. Ist zermürbend. Freundschaften aufrecht zu erhalten, bringt mich oftmals ans Ende meiner Kräfte. Aber ich halte daran fest. So wie an einem Strohhalm, der an machen Tagen einfach zu klein ist, um ihn in den Händen zu halten. Aber trotzdem lasse ich ihn nicht los. Ich versuche ihn irgendwie festzuhalten. Manchmal entgleitet er mir kurz aber irgendwie schaffe ich es, ihn jedes Mal wieder aufzufangen. Bis jetzt. Was oftmals leicht und unbeschwert aussieht, ist in Wahrheit harte Arbeit.
Arbeit? Freundschaft sollte nicht mit Arbeit verbunden sein, oder? Vielleicht sollte es das nicht, aber für mich ist es oftmals Arbeit. Positive Arbeit. Die Arbeit beginnt mit der Organisation eines Babysitters. Nicht irgendeines Babysitters sondern einer Fachkraft für meinen Sohn. Oftmals bin ich so müde und erschöpft von unserem täglichem Therapie- und Tagesprogramm, dass es schon an der Organisation scheitert. Evans Großeltern und mein mittlerweile gutes Netzwerk aus lieben Betreuerinnen vereinfachen mir den Organisationsaufwand enorm aber trotzdem reichen meine Kräfte an manchen Tagen einfach nicht aus.
Zudem möchte ich Evan nicht jedes Mal fremd betreuen lassen, um mich zu verabreden. Ich möchte mit Evan und meinen Freunden Abenteuer erleben. Auf Entdeckungsreise gehen. Evan gehört zu mir. Er ist ein Teil von mir. Ich möchte mit meinen Freunden und unseren Kindern zusammen auf dem Spielplatz gehen. Ich möchte mit anderen Müttern auf der rot-weiß-gestreiften Picknickdecke sitzen, einen Latte Macchiato mit Vanillesirup in der Hand, und unseren Kindern liebevoll beim Spielen zusehen.
Peng. Die Seifenblase platzt.-
In Wahrheit bin ich die Mutter, die ihren Latte Macchiato auf den kompletten Spielplatz verteilt, da ich Evan permanent davon abhalten muss, Blödsinn zu machen. Was an dieser Stelle belustigend klingen mag, ist in Wahrheit harte Arbeit. Bringt mich oft psychisch und physisch ans Ende meiner Kräfte. Da Evan sich nicht ausdrücken kann, ist er oftmals impulsiv und versucht sich verbal zu äußern. Er kann seine Kraft nicht einschätzen und daher muss ich ihn ständig im Blick haben, um im Notfall agieren und reagieren  zu können.
Liebe Leser, kennen Sie das Gefühl einsam zu sein, obwohl sie in Gesellschaft sind? Ich fühle mich oft einsam. Einsam in Gesellschaft. Mittendrin und trotzdem alleine. Wenn Freunde oder Bekannte von Ihren Problemen und Alltagssituationen erzählen, fühle ich mich nicht dazugehörig. Bei Ihnen geht es um eine Grippe und bei uns? Gefühlt oftmals um Leben und Tod. Ich kann die Probleme und ihre Alltagssituationen schwer nachempfinden und für sie sind meine Sorgen und Ängste zu weit entfernt und werden oft mit einem gut gemeinten „Das wird schon wieder“ liebevoll abgetan.
Ich fühle mich schuldig, dass immer alle auf uns Rücksicht nehmen oder Verständnis haben müssen. Mir ist es unangenehm, immer der Grund zu sein, Ausnahmen zu machen oder Umwege gehen zu müssen. Manchmal würde ich mir wünschen, in der Masse unterzugehen und einfach nur dazuzugehören. Nicht immer direkt herauszustechen, wie ein schlechtes Karnevalskostüm.
An einigen Tagen bin ich hochmotiviert und versuche die Balance zwischen der Behinderung meines Sohnes und meinen Freundschaften zu halten. Mit mäßigem Erfolg. Oftmals schleicht sich im Nachhinein, in einer ruhigen Minute, das schlechte Gewissen ein. Wenn das schlechte Gewissen die Gestalt eines Menschen annehmen würde, hätte es definitiv sehr viel Ähnlichkeit mit mir. Ich bin der Inbegriff des schlechten Gewissens. Fragen, wie :
„Werde ich meinen Freunden gerecht? Gebe ich ihnen die Aufmerksamkeit, die sie verdient haben?
keimen in mir auf. Ich wirke oft abwesend und teilnahmslos, nicht interessiert. Mir ist es sehr wichtig, zu erfahren wie es den Menschen um mich herum geht und was sie bewegt. Aber manchmal ist einfach kein Platz mehr für Ihre Empfindungen und Probleme, da meine eigenen Sorgen und Ängste schon meinen ganzen Speicherplatz füllen. Wie praktisch wäre doch eine zusätzliche, externe, Speicherkapazität?
„Ihre Bestellung bitte?“
„Ich hätte gerne eine externe Festplatte nur für Gefühle und Empfindungen.“
„Kein Problem. Die haben wir auf Vorrat.“ 
„Danke. Und Tschüss!“
Spontanität & Flexibilität.Wie bitte?“ Früher standen diese Wörter sehr weit oben auf meiner “Beschreiben-Sie-sich-in-10-Worten-Liste“. Heute? Sind es Fremdwörter. Schaffen sie es noch nicht einmal in die Top 50. Zumindest nicht in Gesellschaft. Mal eben kurz oder einfach nur gibt es in unserem Wortschatz nicht mehr. Ich kann nicht mal eben kurz oder eben schnell irgendwo sein oder irgendetwas machen – schon gar nicht in Gesellschaft. Ich plane alles minutiös und versuche alle schlechten Überraschungen auszuschließen. Wenn ich an unser soziales Leben denke, kommen mir immer und immer wieder 5 Wörter in den Sinn: Vielleicht in einem anderen Leben. 
„Wollt ihr noch schnell mit in die Eisdiele?“ „Danke, vielleicht in einem anderen Leben.“ 
„Kommt ihr noch kurz mit in die Stadt?“ „Danke, vielleicht in einem anderen Leben.“ 
„Wollen wir noch eben schnell zusammen einkaufen gehen?“ „Danke, vielleicht in einem anderen Leben.“
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass Evan und ich alleine sehr spontan und flexibel sind. Wir lieben und leben Spontanität und Flexibilität. In einer Stunde werfen wir gefühlt 10 Mal unsere Pläne über den Haufen, um uns kurzfristig spontan wieder umzuentscheiden.
Wie gehe ich mit der Veränderung “Freundschaft“ um? Eine sehr gute Frage. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass es in Ordnung ist nicht immer zu funktionieren und gewisse “Freundschaftskriterien“ zu erfüllen. Wenn es mir nicht gut geht, äußere ich das offen und erkläre mich ohne mich zu entschuldigen. Es ist mir zu anstrengend geworden, ständig zu lächeln und im Inneren zu weinen oder zu explodieren. Wenn ich gefragt werde: „Wie geht es Dir?“ Kann die Antwort von „ Mir geht es sehr gut“ bis hin zu „Ich bin völlig am Ende und muss jetzt sofort weinen“ ausfallen.
Mit der Zeit habe ich akzeptiert, dass ich einige Strohhalme nicht festhalten kann. Egal wie sehr ich mich bemühe. Ich habe lernen müssen, dass Freundschaften auseinander gehen. Einige Freundschaften sind im Laufe der Zeit an der Behinderung meines Sohnes und meines Verhalten zerbrochen. Oftmals war es ein schleichender Prozess, den ich am Anfang nicht realisieren und sehen wollte. Früher hatte ich oft Angst. Angst davor, irgendwann ohne Freunde zu sein, weil es mit mir und Evan schlichtweg zu ungemütlich, zu kompliziert, ist. Heute kann ich behaupten, dass ich Frieden geschlossen habe. Mit mir, meinen Empfindungen und Gefühlen. Ich habe beschlossen, meine freie und kostbare Zeit mit Freunden und Menschen zu verbringen, die mir und Evan gut tun und bei denen wir so sein können wie wir sind. Auch ohne meine “mir geht es hervorragend“ Maske. Die habe ich zwar immer noch im Gepäck aber sie kommt immer seltener zum Einsatz.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Evan und ich wirklich wunderbare Freude haben. Freunde, die Evan herzlich willkommen heißen. Freunde, die Evans Autismus-Diagnose nicht als  “frech“ abstempeln und Zeit und Geduld für meinen kleinen Michel haben. Freunde, die einiges für uns in Kauf nehmen, damit wir dabei sein können. Einsame Waldspaziergänge, die entlegenste Spielplätze, die kuriosesten Schwimmuhrzeiten, geopferte Bratpfannen und Fliegenklatschen, stundenlange Staubsaugergeräusche, zerbrochene Vasen, nicht vorhersehbare Wutausbrüche und wechselhafte Launen meinerseits – das sind noch die harmlosesten Opfer. Durch Evans Behinderung sind Freundschaften zerbrochen aber es sind auch ganz neue wunderbare Freundschaften und Begegnungen entstanden. Freundschaften, die so ehrlich sind, dass sie mich und Evan schon durch einige Krisen und schwere Momente getragen haben. Freundschaften und Begegnungen, die mich tief im Herzen berührt haben.
Ich gebe nicht auf. Ich verabrede mich. Ich lade ein. Ich feiere meinen und Evans Geburtstag. Ich gehe zu Konzerten und Veranstaltungen. Ich nehme die Herausforderung an und halte fest an einem sozialen Leben und unseren Freundschaften. Egal wie schwierig, kräftezehrend und zermürbend es ist. Auch wenn ich meinen Latte Macchiato mit Vanillesirup nicht auf einer rot weißen Picknickdecke neben anderen Müttern genießen kann, schmeckt er nicht weniger gut. Es fordert nur etwas mehr Kreativität und in diesem Falle auch Flexibilität. In diesem Sinne, lasst uns anstoßen: Auf die Freundschaft!
Liebe Philip-Julius Leser,
ich wünsche Ihnen wunderbare Freunde und Menschen um sie herum, die Sie und Ihre Familien so nehmen und zu schätzen wissen wie Sie sind. Denn genau so sind Sie richtig: Einzigartig wunderbar.
Herzlichst
Marcella
Die Kolumne „Anders und doch normal“ von Marcella Becker erscheint monatlich und beschäftigt sich mit Themen, die die meisten wenn nicht gar alle Eltern behinderter Kinder kennen.
Marcella wohnt mit ihrem Sohn Evan (5) in der Nähe von Bremen. Evan hat das hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) und lebt in seiner eigenen, besonderen Welt, denn Evan ist Autist.
Illustration: Eva-Maria Unglaube

An den Anfang scrollen