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Philip Julius

Anders und doch normal (2)

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Liebe Philip-Julius Leser,
heute möchte ich gerne über ein Thema schreiben, welches mir sehr am Herzen liegt. Durch Evans chronischer Herzerkrankung und seinem Autismus habe ich sie sehr lange ignoriert und verdrängt: Meine Bedürfnisse. Darf ich trotz des Umstands, dass ich Mutter eines behinderten Kindes bin noch Bedürfnisse haben? Was für mich als Tatsache heute sonnenklar ist, musste ich mir über mehrere Jahre sehr hart erarbeiten. Langsam, Schritt für Schritt wieder zurückholen.
Du hast ein behindertes Kind. Du musst Dich kümmern. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Hobbys? Die darfst Du nicht haben.“ So ähnlich war meine Einstellung noch vor ein paar Jahren. Ich habe diese Einstellung nicht freiwillig gewählt. Sie hat sich langsam eingeschlichen. Einfach so. Ich bin wie in einen Sog geraten, der mich nicht mehr losgelassen und immer weiter in den Abgrund gezogen hat. Zu einem gewissen Zeitpunkt gab es mich nicht mehr. Meine eigenen Bedürfnisse habe ich komplett ignoriert.
Nach der Geburt wurde Evan mehrfach am Herzen operiert. Als wir nach ein paar Monaten Krankenhausaufenthalt nach Hause durften, habe ich Evan versorgt. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt noch einen Herzmonitor, der im Notfall ein Signal geben sollte. Ich habe mich um Evan gekümmert und ihn versorgt. Versorgt, gesorgt, umsorgt, besorgt. Diese Wörter standen im Vordergrund. Ich konnte unsere gemeinsame Zeit nicht genießen, da ich in ständiger Sorge gelebt habe.
Andere Mütter sind zum Babyschwimmen oder Babyturnen gegangen. Ich war zu Hause und war dankbar, wenn wir den Tag einigermaßen gesund überstanden haben. Wenn Evan wach war, war ich damit beschäftigt dafür zu sorgen, dass er sich nicht aufregt und schreit, damit sein „armes Herz“ nicht zu stark arbeiten muss. Das halbe Herz, das für ein ganzes Leben reichen soll/muss. Ein Kleinkind davon abzuhalten zu schreien ist allerdings äußerst schwierig. Ich habe Evan die ersten Monate eigentlich nur tragend und tanzend, also tragend tanzend, durch die Wohnung befördert. Gefühlt habe ich ihn morgens schon tanzend aus dem Bett gehoben und ihn den ganzen Tag lang bei Laune gehalten. Wenn wir spazieren gehen wollten, habe ich Evan noch tanzend in den schuckelnden Kinderwagen gelegt und weiter geschuckelt, geschuckelt, geschuckelt, bis wir wieder im sicheren Heimathafen angelangt waren.
Früher hatte ich einfach nur Angst. Angst, dass Evan sich für einen kurzen Moment zu sehr aufregen könnte und dann der Alarm losgeht. An manchen Tagen habe ich es erst am Abend geschafft, mich von meinem Pyjama zu befreien, den ich aufgrund der Tageszeit eigentlich schon fast hätte anlassen können. Zu dieser Zeit bin ich nie ohne meine Sicherheit spendenden SabSimplex-Tropfen und etliche Milchflaschen aus dem Haus gegangen. Ich war gewappnet. Ich hatte einen regelrecht astronomischen Verschleiß an SabSimplex und Milchpulver.
Ich habe Heilpraktiker aufgesucht und verschiedene Methoden ausprobiert, um Evans Abwehrkräfte zu stärken. Mein ganzes Denken und Handeln war der Gesundheit von Evan gewidmet. Der Herzfehler hat in den ersten Lebensjahren von Evan mein Leben bestimmt. Ich konnte die ersten Lebensjahre mit Evan nicht richtig genießen, da ich überwiegend in Sorge war oder sogar panische Angst hatte. Morgens war sie da bevor ich aufgestanden bin und abends bevor ich ins Bett gegangen bin, hat die Angst mir leise aber gut hörbar gute Nacht gesagt.
Mutter sein und Frau bleiben. Darf man das überhaupt? Ich habe ein behindertes Kind und darf keine eigenen Bedürfnisse haben. Ich muss mich aufgeben und nur für mein Kind da sein. Es ist doch schließlich krank und braucht mich 24 Stunden, am Tag und in der Nacht. Heute, nach ein paar Jahren, weiß ich, dass das keine gesunde Einstellung ist. Nur wenn ich glücklich bin, kann Evan auch glücklich sein…. Und ich war lange Zeit nicht glücklich. Ich habe nur unter Zeitdruck gelebt, immer mit einem Bein in der Luft und mit der tickenden Uhr im Nacken. Ich habe funktioniert und dabei das Wichtigste vergessen: Zu leben!
Das ging ein paar Jahre gut aber irgendwann hat sich mein Inneres Ich gemeldet. Fast wie eine aufrüttelnde Stimme. „Hey, mich gibt es auch noch!“
Ich liebe meinen Sohn über alles und er ist meine Priorität. Ich bin Mutter und das bin ich gerne aber darüber hinaus bin ich noch so vieles mehr. Ich bin leidenschaftliche Reiterin, Joggerin, Bloggerin, Tänzerin, Sängerin (vieles mehr schlecht als recht aber das tut meiner Leidenschaft keinen Abbruch). Zusammengefasst: Ich bin eine eigenständige Person mit eigenen Interessen und Bedürfnissen. Das habe ich lange Zeit vernachlässigt bzw. verdrängt – mit Evan zusammen ich selber zu sein und zu bleiben.
Mittlerweile weiß ich, dass es lebenswichtig ist, ein gutes Netzwerk zu haben. Für mich bedeutet es ein Stück Freiheit. Durch Evans Herzfehler, der lebensverkürzend ist, haben wir die Möglichkeit, den ambulanten Hospizdienst in Anspruch zu nehmen. Die Kontaktaufnahme mit dem Kinderhospiz Löwenherz war für mich am Anfang sehr schwierig, da allein das Wort Hospiz für mich etwas sehr endgültiges und trauriges hatte. Das wollte sich schlecht mit unserem Alltag und Leben in Verbindung bringen lassen. Doch als ich Elisabeth kennengelernt habe, habe ich schnell gemerkt, dass Traurigkeit so gar nicht zu der Betreuungsart passt. Nach einem Jahr „Eingewöhnungszeit“ ziehe ich sogar in Erwägung, dieses Jahr eine Woche Urlaub im Kinderhospiz zu machen, um meinen Krafttank wieder neu zu füllen.
Durch die Verhinderungshilfe und Kurzzeitpflege sowie den Anspruch auf Übernahme zusätzlicher Betreuungskosten kann ich den Verein Gemeinsam e.V. in Anspruch nehmen und auch dort hatten wir ebenfalls sehr großes Glück mit der lieben Evi, die Evan einmal die Woche betreut. Evi, Elisabeth und Evan. Das sollte so sein, da bin ich mir ganz sicher. Durch die liebevolle Betreuung, kann ich an zwei Nachmittagen in der Woche frei entscheiden, was ich machen möchte. Ich kann meiner Leidenschaft, dem Reiten, nachgehen oder einfach mal in Ruhe einkaufen gehen.
Ja, sogar in Ruhe in den Supermarkt zu gehen macht mir Spaß! Für viele ist das etwas Selbstverständliches aber für mich ist es das nicht. Die anderen Leute müssen denken, dass ich spinne, wenn ich freudestrahlend durch den Supermarkt schlendere und das Lebensmittel-Einkaufen zelebriere, wie andere Frauen einen Stadtbummel. Oh, ein neues Waschpulver. Und dort drüben, eine neue Käsesorte. Da hinten, meine Lieblings-Cappuccino-Sorte! Und schon bin ich hinter dem nächsten Regal verschwunden.
An manchen Tagen klappt es besser mit dem persönlichen Freiraum und an anderen etwas schlechter. Natürlich schaue ich, wenn ich alleine unterwegs bin, sehr oft auf mein Handy und versichere mich, dass es Evan gut geht. Aber das ist in Ordnung. Mittlerweile gibt es aber auch die Tage, an denen ich nur ein mal anrufe und die restliche Zeit richtig abschalten kann. Glauben Sie mir, das ist ein großer Fortschritt! Dank meiner lieben Eltern kann ich am Wochenende auch mal ausgehen und sogar eine Nacht durchschlafen.
Ich hätte mir am Anfang unseres Weges einen Sammelpunkt der Informationen gewünscht. Welche Betreuungsleistungen stehen uns zu? Welche Hilfsmittel kann ich wo und wie beantragen? Stattdessen musste ich mir alle Informationen mühevoll Stück für Stück selber zusammen suchen und bin zu seiner Art Fachfrau auf diesem Gebiet geworden. Wenn es um Evan geht, verstehe ich keinen Spaß und werde zu einer Löwenmutter. Ich glaube ich bin der Schrecken einiger Ärzte, unserer Krankenkasse und vieler weiterer Institutionen geworden. Viele Mitarbeiter dort würden am liebsten gleich wieder auflegen, wenn sie meinen Namen hören. Frau Becker? Oh, die Verbindung ist ganz schlecht. Ich verstehe Sie leider nicht mehr. Düd düd düd… Aber das macht mir nichts. Wenn ich nicht so penetrant und fordernd gewesen wäre, wären Evan und ich heute nicht so weit gekommen und wir könnten viele Leistungen und Hilfsmittel nicht in Anspruch nehmen.
Evan und ich haben vor zwei Jahren eine familienorientierte Reha in Tannheim gemacht. Viele Eltern, denen ich von dieser Reha erzählt habe, waren sehr überrascht, da sie diese  Art von Rehabilitation noch nicht kannten. Das finde ich sehr schade, da ich allen Eltern mit einem chronisch kranken Kind nur empfehlen kann, eine solche Reha zu beantragen. „Der Patient heißt Familie“ dieses Konzept wird in den vier Wochen Aufenthalt gelebt und ausgeführt. Nicht nur das behinderte Kind wird dort als Patient angesehen, sondern auch die Eltern und die Geschwisterkinder. Jedes Familienmitglied erhält ein individuelles Verwöhn- und Therapieprogramm. Mein persönliches Highlight war die Reittherapie und Evan habe ich in den vier Wochen meist aus dem Schwimmbad oder dem Snoezelraum abgeholt.
Was für mich früher selbstverständlich war, musste ich mit Evan wieder neu erlernen: Ich musste lernen, dass es okay ist, einige Stunden in der Woche nur für mich zu nutzen und währenddessen nicht über Therapien oder Anträge nachzudenken – und dafür bin ich unendlich dankbar!
Mittlerweile habe ich auch gelernt, der Angst die Hand zu geben. Ja, ich kann ihr sogar in die Augen schauen. An manchen Tagen ein wenig länger und an manchen Tagen ein bisschen weniger. Aber das ist in Ordnung. Ich habe gelernt, dass die Angst zu unserem Leben dazu gehört. Wenn ich sie zu sehr verdränge, wird sie immer größer und scheint unüberwindbar zu sein. Aber genau so gehört die Hoffnung in unser Leben und die lade ich jeden Tag aufs Neue zu uns nach Hause ein!
Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass sie hin und wieder etwas Zeit für sich finden! Nehmen Sie sich diese bewusst!
Herzlichst
Marcella
Die Kolumne „Anders und doch normal“ von Marcella Becker erscheint monatlich und beschäftigt sich mit Themen, die die meisten wenn nicht gar alle Eltern behinderter Kinder kennen.
Marcella wohnt mit ihrem Sohn Evan (5) in der Nähe von Bremen. Evan hat das hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) und lebt in seiner eigenen, besonderen Welt, denn Evan ist Autist.
Illustration: Eva-Maria Unglaube

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