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Philip Julius

Anders und doch normal (10)

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Liebe Philip Julius Leser,
jetzt ist schon einige Zeit seit meines letzten Artikels vergangen und Evan und ich haben manches zu berichten. Wir sind mittlerweile umgezogen und dürfen Kühe und Schafe als unsere neuen Nachbarn nennen. Endlich angekommen in unserer Villa Kunterbunt. Wir sagen der Besorgnis und Angst zu laut zu sein: “Tschüss“. Freiheit – wir sind da! Und noch etwas Essenzielles ist neu in unserem Leben: Aus 2 wurden 3. Wir haben einen neuen Mitbewohner. Aber darüber berichte ich später noch etwas ausführlicher.
Kommen wir jedoch zum Thema meines Artikels. Mein Thema für diesen Monat lautet:“….“. Ja, über welches Thema möchte ich diesen Monat überhaupt schreiben?! Wenn ich versuche, in mich hinein zu horchen, spüre ich ein großes Durcheinander. Ein Gefühlschaos. Viele verschiedene Gefühle, die zu schnell wieder auf Reisen gehen, bevor ich sie greifen, festhalten, kann. Trotz des großen Durcheinanders, habe ich den Eindruck, dass ein Gefühl und ein Thema zu diesem Gefühl, es schaffen, sich mir immer und immer wieder zu nähern: Das Loslassen.
Kein Baby mehr. Evan wird dieses Jahr schon 6 Jahre alt und kommt zur Schule. Mein kleiner Michel wird langsam, ganz langsam, erwachsen. Wenn ich Evan anschaue, ihn betrachte, sehe ich immer noch meinen kleinen Michel, der im Krankenhaus um sein Leben kämpfte und dieses Leben jeden Tag aufs Neue verteidigt. Wenn ich ehrlich bin, behandle ich ihn oft noch wie ein Kleinkind. Ein Stück weit mag seine Behinderung daran Schuld sein. Wenn man in diesem Falle überhaupt das Wort Schuld benutzen kann oder darf. Aber ein großer Anteil liegt bei mir. Das weiß ich. Ich habe das Gefühl, dass ich Evan rund um die Uhr beschützen muss. Manchmal vor sich selber und manchmal vor dem Leben. Alle negativen Emotionen möchte ich von ihm fern halten. Keine Frustration darf sich ihm nähern. Und falls doch? Dann stehe ich bereit. Mit meinem Laserschwert in der Hand und zum Angriff gewappnet. Was sich an dieser Stelle lustig anhören mag – ich habe selber geschmunzelt – ist in der realen Welt harte und manchmal durchaus erbärmliche Arbeit. Es grenzt schon fast an Selbstaufgabe. Ich gehe ständig über meine Grenzen um Evans Grenzen zu schützen. Zu verteidigen. Lange kann ich diesen Kampf nicht mehr kämpfen. Ich bin müde und erschöpft. Ich muss lernen, ihn ein Stück weit loszulassen, damit er seine eigenen Kämpfe austragen kann. Damit meine ich keineswegs körperlichen Kämpfe, die er auf dem Schul- oder Kindergartenhof austragen soll. Nein, ich meine Gefühlskämpfe. Kämpfe der Frustration, Enttäuschung, Wut, Trauer und vor allem der Eifersucht.
Eifersucht. Aus 2 wurden 3: Wie ich schon erwähnt habe, gibt es seit geraumer Zeit einen neuen Mitbewohner. Ein neuer Mann in Evans und meinem Leben. Allmählich bemerkt Evan, dass dieser Mann immer und immer wieder kommt. Das mag an der Tatsache liegen, dass wir mittlerweile zusammen leben. Egal wie oft Evan „Tschüss“ sagt, der Mann ist am Abend wieder da.
Lange Zeit gab es nur Evan und mich. Wir waren – sind – eine Einheit. Eine Einheit, die es fast unmöglich macht, zusätzlichen Raum für eine andere Person zu schaffen. Das wird mir erst jetzt so richtig bewusst. Evan ist ein schlaues Kerlchen und bemerkt mein permanentes schlechtes Gewissen, weniger Zeit für ihn zu haben, sehr genau.
Früher habe ich es bildlich vor mir gesehen: Das Glück einer Patchworkfamilie. Eine wild zusammengefügte Familienbande, die trotz unterschiedlicher Lebensweisen wunderbar zusammenpasst und völlig unkompliziert und liebevoll zusammenlebt. Unsere Realität? Die lasse ich an dieser Stelle – noch – unkommentiert. Aber so viel kann und darf ich preisgeben: sie sieht (ein wenig) anders aus. Ich habe ständig das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Es beiden Fraktionen Recht machen zu wollen und zu müssen. Meistens klappt das weniger gut und ich sitze auf dem Boden. Das bedeutet so viel wie: Beide sind böse auf mich.
Eine Familie zu gründen ist immer schwer, egal ob mit einem gesunden oder einem behindertem Kind. Allerdings glaube ich, dass es mit einem besonderen Kind besondere Schwierigkeiten und Herausforderungen gibt. Auf allen Seiten. An allen Fronten. Ein behindertes Kind braucht viel Aufmerksamkeit und Zeit. Diese Tatsache wirkt sich meistens auf die ganze Familie aus. Oftmals bleibt wenig Zeit für die Partnerschaft und viele Paare stoßen an ihre Grenzen. Das habe ich selber am eigenen Leibe erfahren und erlebt. Die Angst, diese Erfahrung nochmal machen zu müssen, bleibt immer ein Stücken bestehen.
Aber trotz der schwierigen Umstände möchte ich nicht auf mein ganz eigenes persönliches Glück – neben Evan – verzichten. Evan und ich müssen zusammen und doch jeder für sich lernen, ein Stück weit loszulassen.
Wir schlagen uns tapfer und ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam unseren Weg bestreiten werden. Aus 2 werden 3 – wie schön!
Herzlichst
Marcella
Die Kolumne „Anders und doch normal“ von Marcella Becker  beschäftigt sich mit Themen, die die meisten wenn nicht gar alle Eltern behinderter Kinder kennen.
Marcella wohnt mit ihrem Sohn Evan (5) in der Nähe von Bremen. Evan hat das hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) und lebt in seiner eigenen, besonderen Welt, denn Evan ist Autist.

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